Die Mittwochsweisheit, Folge 9

Wisst ihr, was richtig, richtig cool wär? Wenn ich in der Lage wäre, diesen Beitrag so zu formulieren, dass er sich, auf den Kopf gestellt, genauso läse wie Folge 6. Aber das Leben ist halt kein Gnadenhof und deshalb braucht ihr gar nicht erst beginnen, das Tablet rotieren zu lassen. Fällt eh nur runter und dann ist die Uhr kaputt!

Wir hatten gestern übrigens hohen Besuch. Könnte daran liegen, dass wir ganz oben wohnen, aber wenn man diese Zusatzinformation weglässt, wirkt es wichtiger. Deshalb, ganz ohne Zusätze: Wir hatten gestern hohen Besuch!

Es klopfte gegen 18:53 Uhr und sieben Sekunden an der Wohnungstür, was mich in Erstaunen versetzte, da der Nachbar sich derzeit im Urlaub befindet. Schulpflichtige Kinder müsste man haben! Egal. Jedenfalls, ich kletterte aus dem Erstaunen heraus und schlurfte zur Tür, demonstrativ ein Messer in der Hand haltend, denn wir hatten gerade diniert. [Da kann es ja ganz schlimme Missverständnisse geben. „Was wollen Sie?“ – „Dinieren!“ – „Nein! Das sind meine!“ … Aber über illegalen Organhandel mache ich natürlich keine Witze.]

Ich öffnete also die edlen Pforten unserer Bruchb Behausung und blickte auf fusselige graue Socken in ausgetretenen Schlappen, die wohl mal hellblau gewesen waren. Mein Auge kletterte nach oben, streifte eine dunkle Leggins, dann ein helles Shirt und schließlich das Gesicht von der Frau aus dem Nachbarhaus, die uns immer ins Wohnzimmer guckt – im Gegenzug starren wir ihr dafür manchmal in die Küche.

„Guten Tag“, sagte sie. „Hat er sie verlassen?“

Ich überbrückte meinen Denkzeitbedarf mit einem ausgedehnten „Ja hallooooo[…]ooooo Frau … äh … Nachbarin! Wer hat mich verlassen? Wir wohnen immer noch zu zweit hier.“

„Nein, nicht Sie, sie!“ Bedeutungsschwanger blinzelte die Dame in die Untiefen unserer Lebenswelt.
„Ja, sie wohnt auch noch hier, hab ich doch gesagt!“
„Aber was ist mit dem Mann? Den habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen! Also, im Hof. Ähem. Und man macht sich ja so seine Gedanken.“

Ich wusste nicht, ob ich die Dreistigkeit ihrer Neugier amüsant oder entsetzlich finden sollte. Außerdem hörte ich, wie sich das Ohr der Menschin auf die Schwelle gelegt hatte und mit kleinen Läppchen-Hüpfern immer näher herankroch.

„Ach DER, äh, na ja … tragische Geschichte, wissen Sie“, sagte ich schließlich. Das Gesicht der Nachbarin ging in Bereitschaft zu Beileidsbekundungen über und hob schon an, sich am Schicksal der Menschin zu weiden wie diese lilafarbenen Tiere, aus denen die Schokolade kommt. Ich lockte sie mit meinem Zeigefinger zu mir auf Augenhöhe und senkte die Stimme. Das Ohr der Menschin erhob sich in meinem Rücken und setzte zum Sprung an. Die Nachbarin hatte vor Spannung das Atmen eingestellt und bekam einen leicht bläulichen Touch.

„Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen“, säuselte ich sanftmütig. „Tut mir leid, da sind Sie wohl falsch verbunden.“

Ein Schnauber der Empörung verließ die Nachbarinnennase [Ha, das wird Wort des Jahres 2016!] und schleuderte ihren Kopf nach oben in seine Ausgangsposition. Wütend schaute sie auf mich herab. Erst jetzt fiel mir auf, dass hinter ihrer linken Schulter ein paar graue Locken hervorsprossen, die unmöglich von ihr selbst stammen konnten.

„Aber sagen Sie, wo Sie gerade hier sind“, begann ich freundlich, „ist unten die Haustür offen oder wie sind Sie hier reingekommen?“

Nach allen Regeln der Kunst düpiert machte die Dame auf dem Absatz kehrt, schnappte sich den ältlichen Mann, der hinter ihr gestanden hatte und rief: „Komm Dietrich, wir gehen!“

Als ich zufrieden zurück ins Esszimmer kam, hatte die Menschin nicht nur ihren eigenen, sondern auch meinen Teller komplett leergegessen und war gerade dabei, mit dem Zeigefinger die restlichen Brotkrümel aufzusammeln.
„Was ist denn hier passiert?!“, fragte ich ehrlich entsetzt. Die Mietzahlerin zog sich schnell eine unschuldige Trauermiene über.

„Na ja … tragische Geschichte, wissen Sie …“